Ich hocke im Keller. Es ist kalt. WLAN-Ausfall im ganzen Haus. Ich muss mit dem Laptop direkt ran an den Router per LAN-Kabel: die einzige Chance, um meine Premiere zu begehen, im zweiten DSOL-Online-Turnier.
Ein Trost: Der Gehirnkasten wird sowieso gleich auf Höchsttemperatur schalten. Den Rest halten Mantel, Schal und Mütze warm, und - natürlich lenkt mich der Gedanke ab, gleich anzutreten gegen meinen ersten Gegner.
Das ist doch nicht etwa der Jurist und Buchautor Dr. Z.? Ach, du dickes Eisen! Eine kleine Internetsuche bestärkt meinen Verdacht. Das kann ja heiter werden! Wird es aber nicht. Jedenfalls nicht für mich.
Die SK Bad Homburg II hat in den ersten beiden Runden aus acht Partien schon 5½ Punkte vorgelegt. Irgendwie eine Hypothek. Ich will ja diesen guten Lauf nicht verhunzen.
Die Zeit tickt. Eine Viertelstunde vor Spielbeginn muss ich mich einwählen, um zu zeigen, dass ich vor Ort bin, bereit für den ersten Zug, sobald der Start freigegeben wird. Wir haben heute Heimspiel, Teamleiter Jan-Peter wird den Knopf drücken. Hastiger letzter Austausch im Team-Chat zwischen den Spielern: „Mein Gegner Zugzwang wird im Chat als anwesend gemeldet, aber an meinem Brett sitzt er nicht.“ „Ich sehe noch kein Brett.“ „Bei mir steht als Gegner auch noch startbereit.“ Jan-Peter kämpft irgendwo im Hintergrund, für uns unsichtbar, mit irgendwelchen Knöpfen und Tasten: „Ich bin das Problem.“ Klar, kann passieren.
Dann startet die Turnierleitung die Spiele, und mein Blutdruck steigt spürbar. 45 Minuten Zeit plus 15 Sekunden für jeden Zug. Mit diesem Format habe ich noch keinerlei Erfahrung. Meine Versuche, mit jemandem im Club mal testweise online zu spielen, sind im Sand verlaufen. Ich war auch nicht besonders beharrlich, und in Corona-Zeiten ist halt Kommunikation irgendwie schwierig. Es fehlen die analogen Clubabende. Egal. Wird schon irgendwie gehen. Ich darf eben nicht zu kompliziert werden. Doch meine erste Partie geht voll in die Binsen. Die Dame stand im Abzug, und mit einem kleinen Seitenschritt hat des Doktors Dame den Druck unerträglich für meinen Springer verstärkt. Der ist futsch und damit die ganze Partie.
In der nächsten Runde bekomme ich sogar einen Professor vorgesetzt. Uwgh! Schockstarre. Die Suchmaschine liefert mir Bilder von einem Prof. Dr. O. Er unterrichtet Sprachen an einer privaten Hochschule in der Nähe von Göttingen, und so gefährlich sieht er gar nicht aus mit seinem blonden Lockenschopf. Zum Glück sind auf Chessbase auch einige seiner früheren Partien zu finden - eine gute Möglichkeit, sich ein bisschen hineinzudenken in den Kontrahenten. Verflixt, er scheint stärker zu sein, als ich dachte.
Letztlich ist es halt ein Unterschied, ob man nur für sich allein in der großen Veranstaltungshalle in Eschborn die Waffen streckt und geknickt nach Hause fährt oder - schon zu Hause ist, aber eben für sein Team keine Punkte einfährt. Na gut, beim nächsten Mal wird es besser, rede ich mir ein. Und tatsächlich - mein dritter Auftritt in der fünften Runde bringt der Mannschaft endlich einen Punkt ein. Was für ein Triumph!
Aber eins ist mir auf jeden Fall klargeworden: Online fehlt doch ein bisschen die anschließende Besprechung. Mühsam muss ich selbst schauen, wo ich nicht den stärksten Zug gefunden habe. Der Analyse-Button hilft - eine ausführliche Einführung findet sich auf https://de.chessbase.com/post/tutorial-dsol-premium-account-funktionen.
Aber es bleibt insgesamt ein einsames Geschäft. Für den Schachspieler natürlich nichts Neues. Schöner ist es dennoch, gemeinsam in einem Raum mit den anderen zu sitzen und zu schwitzen, mal von Brett zu Brett zu gehen, in der Mimik des Gegners zu lesen. Das alles gibt es online eben nicht. Würden Video-Übertragungen über Zoom helfen? Vielleicht.
Natürlich sind die DSOL-Online-Mannschaftskämpfe ein wunderbarer Ersatz, solange das Corona-Virus wütet. Wir kommen mal raus aus den eigenen vier Wänden - zumindest in Gedanken. Tummeln uns in Deizisau, in Rinteln oder in Lehrte. Füttern ein bisschen die Fantasie. Allein die Vereinsnamen - hier und da ein Quell der Inspiration: SV Königsjäger, SC Roter Turm Altstadt, SC Zitadelle Spandau oder SC Diogenes. Aber machen wir uns nichts vor. Es bleibt Ersatz, und ich werde das Gefühl nicht los: Wenn wir mit Corona erst mal durch sind, wird der Ansturm in den Vereinshäusern alle Grenzen sprengen. Die traditionellen analogen Turniere werden überlaufen sein, neue aus dem Boden schießen. Wenn wir den Virologen- und Epidemiologen-Auguren trauen, soll es ja im Herbst so weit sein ... (J.B.)